Mertesacker, Jakob, „es ist gut, dass wir da eine andere Story haben“. Eheschließungsrituale und ihr Beitrag zur Identitätspraxis von Männern, Ostfildern (Grünewald) 2023

 

In seiner Dissertationsschrift widmet sich Jakob Mertesacker einem ungewöhnlichen Untersuchungsgegenstand: Männer und Eheschließungsrituale. Die Relevanz scheint zunächst kontraintuitiv zu sein. Ist es „gefühlt“ nicht so, dass das Eheschließungsritual bzw. die Feier der Hochzeit vor allem von den zukünftigen Ehefrauen geprägt wird? Und umgekehrt: Wird Männern in der Regel nicht nachgesagt, sie interessierten sich für die konkrete Gestaltung der Feier weit weniger als Frauen? Darüber hinaus überrascht eine weiterer Topos der Studie: Mertesacker untersucht so selbstverständlich und mit gleicher Methodik Eheschließunsgrituale zwischen gleichgeschlechtlich liebenden Männern, als gäbe es innerhalb des kirchlichen Diskurses darüber keinen Dissens. Das Forschungsdesign ist also auf jeden Fall spannend. Und es wird hoffentlich am Ende dieser Zeilen klar: Die Studie gibt tiefe Einsichten zur Notwendigkeit einer Transformation des Eheverständnisses.

Die Studie widmet sich der Hauptforschungsfrage, inwieweit das Eheschließungsritual für Männer identitätsrelevant ist und sich dies auf das Ritual selbst auswirkt, dem sich beide Partner unterziehen. Ganz richtig: bisher fiel nicht das Wort „Sakrament der Ehe.“ Hier liegt Mertesacker ganz auf der Linie gegenwärtigen Lebensgefühls und bezieht hier, wie schon erwähnt, auch Eheschließungsrituale zwischen zwei Männern mit ein: Die Eheschließung ist ein heterogenes Geschehen, das sich nicht durch die Durchführung nach dem offiziellen Rituale für die Sakramentenspendung von selbst und unhinterfragt versteht. Sakramententheologisch ist die Studie insofern interessant, als dass sie aufzeigt, dass die von Mertesacker interviewten Männer das klassische kirchliche Verständnis der Ehe längst erweitert haben. Mit anderen Worten: Durch die intensive Auseinandersetzung unter teilweiser Aneignung der traditionellen Form erfahren sie ein identitätsstiftendes Moment bei der Eheschließung selbst. Die Eheschließung wirkt somit als Endpunkt einer Entwicklung und wird zum Beginn für eine neue Form der Lebenspraxis. Sie ist sozusagen „Punkt Null“ einer sinnstiftenden neuen Identitätspraxis. Solche Zäsuren sind nicht nur für die Individuen von herausragender Bedeutung. Nullpunkte sind auch theologisch höchst interessant.

Schauen wir noch etwas genauer hin. Mertesacker gründet seine Studie auf die qualitativ ausgerichtete „dokumentarische Methode“ nach Mannheim und anderen, ähnlichen Konzepten qualitativer Sozialforschung, die sich stark am transkribierten Text von Leitfadeninterviews orientiert. Die Studienteilnehmer werden – um es verkürzt zu sagen – beim Wort genommen. Die Rekonstruktion und Analyse des Gesagten ist dann die Hauptaufgabe des Forschenden.

Die befragen dreizehn Männer wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Und da qualitative Forschung nie repräsentativ sein kann, muss vom Einzelfall auf eine größere Gruppe geschlossen werden, indem vertiefte Einsichten in die Motivationen der Männer, ein Eheschließungsritual zu vollziehen, durch die intensive Analyse der Interviews gewonnen werden, die thesenhaft anschließend generalisiert werden.

Als Ergebnisse der Studie können folgende Einsichten festgehalten werden.

Erstens: Männer betrachten die Entscheidung, zu „heiraten“ (dies steht in Anführungszeichen, weil darin auch ein Segen für gleichgeschlechtliche Paare mitgemeint ist) nicht am Anfang eines Weges der persönlichen Identitätsdefinition in einer Paarbeziehung, sondern am vorläufigen Ende eines intensiven Auseinandersetzungsprozesses. Für die Heiratswilligen macht die aktuelle Beziehung einen Unterschied zu allen anderen vorher geführten, auch vielleicht langjährigen Beziehungen. Die Heirat ist eine Zäsur.

Zweitens: Das gewünschte Ritual der Eheschließung oder Segnung der Beziehung changiert zwischen Übernahme der traditionellen Formeln und Ritualen und einer Umgestaltung oder Erweiterung aufgrund individueller Erfahrungen und Wünsche. Egal ob hetero- oder gleichgeschlechtlich liebend, bewegen sich die Eheleute also zwischen „Aneignung und Transformation“ des überlieferten Ritus.

Drittens: Die umfassend theologische sakramentale Bedeutung im klassischen Eheverständnis war für die Befragten weit weniger wichtig, als das öffentliche Bekenntnis zu dieser Liebe, die persönliche Sicherheit, die das Ritual verheißt und die Bitte um Segen von Gott in einer feierlichen Form.

Viertens: Der Originalton der Interviews gibt tiefe Einblicke in die Motivlage von Männern, zu heiraten. Es ist ein existenzieller Vorgang, der sie dazu bewegt. Die Heiratswilligen erzählen oftmals von Irrungen und Wirrungen der Liebe in anderen, vorhergehenden Beziehungen und welchen Unterschied die jetzige Entscheidung macht, zu heiraten. Auch wenn oftmals nicht explizit von Gott die Rede ist, wird in den Gesprächen deutlich, dass die Eheschließung überindividuelle, mindestens selbsttranszendente Bedeutung hat und welche oft schmerzhaft erlebten Wege dahin geführt haben. Fünftens: Erstaunlich emotional sprechen Männer von diesen Wegen. Dies widerspricht eindeutig dem Klischee über Männer, dass nämlich Männer unreflektiert und gefühlsstumpf seien. Das Gegenteil ist bei den Interviewten der Fall.

Sechstens schließlich: Mit der Eheschließung setzen die Eheleute ein Zeichen: für sich selbst, für die Herkunftsfamilie, vor den Freunden und der Kirchengemeinde, in der das Ritual stattfindet. Sie bekennen sich zur Liebe und Bindung an diesen Partner. Der Segen, um den die Heiratswilligen bitten, ist daher ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Element. Hier begeben sich die Beteiligten, bildlich gesprochen, in die Hände Gottes, und gleichzeitig bitten sie auch ihr soziales Umfeld, ihnen den Segen zu ihrer Verbindung zu geben.

Umso unverständlicher erscheint es, dass das Lehramt der katholischen Kirche in der jüngsten Erklärung Fiducia supplicans (zu Deutsch: Flehendes Vertrauen) zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare eine solche zwar zulässt, aber ohne all das, was die Ergebnisse dieser Studie herausarbeiten. Der Segen wird von den Heiratswilligen nicht nur für die Teile erbeten, die dem kirchlichen Lehramt aufgrund seines kategorischen Eheverständnisses zu geben möglich erscheinen. Heiraten, so belegt die Studie, legt die Vulnerabilität menschlicher Existenz offen. Heil und sicher, an der Seite eines anderen Menschen, dem ich vertraue, zu gehen, dazu soll der Segen erbeten werden. Die vorgeschlagene Weise des Segens durch Fiducia supplicans lässt all das nicht zu, was Männer sich wünschen, wenn sie eine Ehe eingehen und nicht der heterosexuellen Norm entsprechen oder schon einmal verheiratet waren. Ein Paarsegen ohne Feierlichkeit, ohne Treueversprechen, ohne Öffentlichkeit, nicht in kirchlichen Räumen ist ein Segen zweiter Klasse.

Die Studie löst bei mir deshalb auch weitergehende Fragen aus. Will die katholische Kirche in der Zeit weitergehen oder bei einem hermetischen Eheverständnis stehenbleiben, in dem sich dann aber zunehmend immer weniger Menschen wiederfinden können? Was nützt der Kirche ein mystisch anspruchsvolles sakramentales Verständnis der Ehe, das aber immer mehr die Bodenhaftung verliert? Warum ist sie – zumindest offiziell – so kleinlich und elitär bei Bitte an Gott um Segen? Die Aufgabe der Pastoral und der Pastoraltheologie wird meines Erachtens in der Zukunft darin bestehen, in Praxis und Theoriebildung darauf hinzuwirken, dass sich das Eheschließungsritual ausrichtet auf konkrete Menschen in den Zeitläufen ihres Lebens. Kirche kann das. Sie muss es aber auch wollen.

Mertesacker hat jedenfalls mit seiner Studie einen wichtigen Beitrag zur Debatte geleistet. Chapeau!

Dr. Andreas Heek

Arbeitsstelle Männerseelsorge, Fachbereich Queerpastoral